Sonntag, 17. Februar 2013

The Joy Formidable, Stuttgart, 03.02.13


Konzert: The Joy Formidable
Vorband: We // Are // Animal
Ort: Zwölfzehn, Stuttgart
Datum: 03.02.2013
Zuschauer: 250 (vermutlich ausverkauft)
Dauer: The Joy Formidable knapp unter 100 min., We // Are // Animal etwa 30 min.


von Jens aus Stuttgart
 

Vor einigen Jahren sah ich The Joy Formidable bei Rockpalast im WDR. Es wurde ein Auftritt in Köln gezeigt, bei dem das Waliser Trio The Temper Trap aus Australien supportete. Damals kam mir die Musik und Perfomance der charismatischen, kleinen blonden Frontfrau und Gitarristin Ritzy Bryan mit dem niedlichen Kleid und ihrer Bandkollegen Rhydian Dafydd (Bass) und Matt Thomas (Schlagzeug) wie eine Offenbarung vor. Ende 2009 konnte ich mir nichts irrelevanteres vorstellen als zeitgenössischen Grunge. Als ich dann Songs wie „Cradle“, „Austere“ und „Whirring“ hörte und den Auftritt der Band im Fernsehen dazu sah, fühlte ich mich überrumpelt. Keine Frage hier wurde klassischer Grunge gespielt, durchsetzt von Shoegaze-Einflüssen. Und dann diese „Wall of Sound“, die nicht so dekadent klang, wie das was Phil Spector unter dem Begriff prägte und meilenweit vom prätentiösen Riffrock entfernt war, den Muse in den letzten Jahren immer überflüssiger werdend zelebrierten. Damals kaufte ich mir sofort die EP „A Balloon Called Moaning“; ein ganz wunderbares Zeugnis einer aufstrebenden, jungen Band, auf dem die fantastischen, genannten Lieder enthalten waren, neben anderen Perlen. Sofort wurde ich Fan, fieberte dem Debütalbum entgegen, das als „The Big Roar“ angekündigt wurde, doch noch viel sehnsüchtiger flehte ich Deutschland-Auftritte herbei, zu denen es nicht kam. Abgesehen von wenigen Auftritten im Winter 2009. Ein Jahr später konnte man schließlich das Debüt vorbestellen, unter anderem als exklusives Boxset. „South London Guitar Massacre“ betitelt, stellten The Joy Formidable Mitte Dezember 2010 ein Video in Youtube, in dem – garniert mit Referenzen an Genreklassiker des Horrorfilms – zu sehen war, wie Ritzy mit wahnsinnigen Blick und pinker (!) Kettensäge eine E-Gitarre zersägt. Das hatte natürlich nichts mit der autodestruktiven Kunst eines Gustav Metzgers zu tun, wie Pete Townshend einst die Equipmentzerstörungsorgien der Who in den 60ern rechtfertigte, sondern war als reine Promotion gedacht. Mich jedenfalls sprach das Angebot sofort an: So versprach die Band den ersten 300 Vorbestellungen des Boxsets ein Gitarrenstück beizulegen; natürlich schlug ich zu. Als ich das Album im Januar 2011 dann hörte, hielt meine anfängliche Begeisterung an, die erst mit dem aktuellen Album „Wolf' Law“ rapide abnehmen sollte.

Obwohl mir die zuvor ausgekoppelten, neuen Songs überhaupt nicht gefielen, freute ich mich unheimlich, als nach drei-jähriger Wartezeit nun doch eine anständige Europatour angekündigt wurde: Mit Tourauftakt in Stuttgart.


Draußen war es bitter kalt, als wir den bereits gut besuchten Club Zwölfzehn betraten. Für mich ist das Zwölfzehn fraglos eine der drei besten Locations in Stuttgart für großartige Konzert. Und im kleineren Clubsegment sogar meine liebste. Vom Band lief obskure, pathetische Musik, die zunächst an den Artrock der 70er erinnerte, dann an den Stadionrock Muse und sich letztendlich als unbekannter 90er Indierock entpuppte.

Als Support waren We // Are // Animal angekündigt, eine rockige Formation, ebenfalls aus Wales. Trotz technischer Probleme (ein Gitarrenverstärker funktionierte nur fehlerhaft), überzeugte mich der treibende Rock mit World Music Einflüssen. Ein zusätzlicher Percussionist bewahrte dabei die eher eintönige Musik vor einem möglichen Abdriften in die Bedeutungslosigkeit. Darüber hinaus ermöglichte es zusätzliche Klangspektren weg vom klassischen Indiegitarrenrock. Ein bisschen klang es als hätte Ginger Baker nach dem Ende von Cream eine weniger virtuose Band gegründet, in der ein walisischer Johnny Rotten, der aussieht wie Bob Geldof Frontmann ist. „Black Magic“, ein besonders prägnanter Song blieb mir äußerst positiv im Gedächtnis – ebenso wie die fast unverständlichen Ansagen mit breitem walisischen Akzent. Der erste Deutschland-Auftritt We // Are // Animals war sicherlich nicht mein letztes besuchtes Konzert des elektrifizierenden Kollektivs.


Nach einer längeren Umbaupause geht das Licht aus und Ritzy Bryan, Rhydian Dafydd und Matt Thomas betreten die niedrige Bühne des kleinen Clubs mit der anregenden 60s-West-Coast-Surfer-Atmosphäre. Man könnte sich einen Auftritt der frühen Beach Boys hier durchaus erträumen. Musikalisch liegen zwischen Ritzy Bryan und Brian Wilson selbstredend Welten, auch wenn die Joy Formidable Sängerin immer wieder betonte, dass „Pet Sounds“ eines der prägendsten Alben für sie war (für wen war es das nicht?).

Mit „Cholla“, der in meinen Augen interessantes Single des aktuellen Albums beginnt das Set. Ein eingängiger Grunge-Song, der insgesamt poppiger ausfällt als die meisten Songs des Debütalbums prallt einen entgegen. Ritzy Bryan steht in einem der für sie so typischen, dezent bemusterten, hochgeschlossenen Kleidern hinter dem Lichterketten verzierten Mikrophon und singt strahlend einen Song, dem man anzuhören glaubt, dass The Joy Formidable auf ausgedehnter US-Tour mit den Foo Fighters waren, die dafür sorgte, dass die Waliser dort ein weitaus angesagterer und größerer Act sind als in ihrer britischen Heimat oder gar in Kontinentaleuropa. Deutlichster Beleg ihrer Popularität in Nordamerika dürfte wohl die Soundtrack-Beteiligung an einem der „Twilight“-Filme sein. Dass sowohl der entsprechende Song („Endtapes“) als auch ein Teenager-Vampir-Lovestory affines Publikum in Stuttgart fehlten beruhigte mich sehr.

Als zweiten Song kündigt Ritzy mit überraschend reinen Oxford-English „Austere“ an. Die Euphorie der Zuschauer steigt deutlich, auch die Perfomance wird intensiver. Wie ein Wirbelwind fegt Ritzy Bryan über die Bühne, blickt sympathisch-wahnsinnig, indem sie die Augen weit aufreißt und pendelt vom linken Bühnenende, wo ihr Exfreund Rhydian Bass spielt, zur rechten Seite, wo irritierenderweise das Schlagzeug aufgebaut war. „This Ladder Is Ours“ einer der mediokren Tracks des aktuellen Albums folgt, und ich spüre, wie sich Langeweile in mir breit macht. Zum Glück kann „The Greatest Light Is The Greatest Shade“ die Situation retten. Der wohl epischste Song des Debüts entfacht live seinen ganzen Zauber. Das Zusammenspiel von Rhydian, der bereits jetzt schweißüberströmt ist, und Ritzy ist dabei fast magisch. Die freigewordene Energie ist kaum in Worte zu fassen und lässt einen ungläubig zurück, weiß man, dass beide kein Paar mehr sind. Auch wenn sie immer wieder betonen, sie seien nur noch beste Freunde und rückblickend die wichtigsten Menschen in ihrem Leben, ist in ihrer Interaktion ein erotischer Zauber, der die unterkühlte Aura der blonden Frontfrau für kurze Augenblicke verschwinden lässt. Nicht nur für mich sieht es aus, als habe man ein Liebespaar vor sich, das all die positive Energie in der Musik verschmelzen lässt.

Entschuldigt mir meinen leicht esoterisch angehauchten Exkurs, doch frage ich mich tatsächlich, was mich wohl erwartet hätte, wenn ich wie geplant im Oktober 2010 mir den Auftritt auf der NME-Tour im Londoner KOKO angesehen hätte, anstelle Indisch essen zu gehen. Doch führen diese Spekulation viel zu weit.


Als die ersten Akkorde zu „While the Flies“ erklingen, freue ich mich sehr. Für mich stellt er einen Höhepunkt der „Balloon...“-EP dar, der unverständlicherweise keinen Platz auf „The Big Roar“ fand. Dabei spiegelt er doch fantastisch die Mystik, die sich häufig in der Musik findet, wieder und glänzt mit hervorragend gezeichneten Bilder, die in all ihrem Pathos doch noch immer liebevoll detailliert sind: „I'll take to throwing all the pennies I stole / I'll throw them well and get a wish now it's time for all / For pinching thumbs to help revive me / These pinching thumbs will lift you from the enemy / And when the dust settles and we raise once more“.

Darauf folgt „Cradle“, der Schweiß tropft von der Decke und es wird kollektiv auf engen Raum getanzt. Das Highlight des bisherigen Abends. Drei neue Songs folgen und ich wünsche mir innerlich, dass das kommende Album in eine andere Richtung geht.

„I don't want to see you like this“, die eingängige Single aus der „Big Roar“-Zeit und „The ever changing spectrum of a lie“, der epische, langgezogene, Opener des Debütalbums mit einem atemberaubendenen Crescendo, beenden das reguläre Set. Ritzy hält ihre Gitarre über die Köpfe der ersten Reihe, reißt die Augen weit auf und lässt die ersten Reihen die Saiten berühren. Dann verlassen die drei die Bühne. Das Publikum holt Atem, applaudiert enthusiastisch und bekommt mit „Forest Serenade“ eine Zugabe aus „The Wolf's Law“, die wohl der großartigste Titel des mittelmäßigen Albums ist. Als zweite Zugabe gibt es den titelgebenden Track, der mich in seiner gesamten Soundästhetik nicht fesseln will.

Dave Grohl bezeichnete „Whirring“ einmal als einen der besten Songs der letzten Jahre und heute Abend erfahre ich am eigenen Leib warum. Ich mochte die sperrige Single schon immer, genoss verschiedenste Liveversionen auf Youtube, aber nichts kann mit dem verglichen werden, was sich in Stuttgart abspielte. Ritzy rammt ihren Kopf gegen Ende Rhydian in die Brust, wie es Zidane 2006 im Weltmeisterschaftsfinale bei Materazzi die rote Karte einbrachte und Frankreich den Titel kostete. Im Gegensatz dazu ist Ritzys Handlung das Zeichen puren Glückes. Die Version dauert an die zehn Minuten, wenn nicht länger. Auch wenn es ein Klischee ist, ich fühle mich in der Musik versunken. Dann ist Schluss, meine Ohren dröhnen trotz Oropax. Wir verlassen das Zwölfzehn glücklich und erschöpft. Ich weiß bereits jetzt, es war eines der besten Konzerte des Jahres. Draußen schneit es. Die Euphorie hält an.

Setlist The Joy Formidable, Zwölfzehn, Stuttgart:

01: Cholla
02: Austere
03: The ladder is ours
04: The greatest light is the greatest shade
05: Little blimp
06: While the flies
07: Cradle
08: Tendons
09: Silent treatment
10: Maw maw song
11: I don't want to see you like this
12: The everchanging spectrum of a lie

13: Forest serenade (Z)
14: Wolf's law (Z)
15: Whirring (Z)



 

 

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