Mittwoch, 5. Juni 2013

Depeche Mode, Stuttgart, 03.06.2013

Konzert: Depeche Mode
Ort: Mercedes-Benz Arena, Stuttgart
Datum: 03.06.2013
Zuschauer: 36.000
Dauer: 137 Minuten

Dass ich zwei Stadionkonzerte innerhalb von acht Tagen besuche, überrascht mich selbst. Mein letztes Konzert in einem Fußballstadion liegt fast sechs Jahre zurück, es war mein zweiter richtiger Konzertbesuch überhaupt. Damals gewann ich Karten für The Rolling Stones in der Frankfurter Commerzbank-Arena, ursprünglich hätte Amy Winehouse im Vorprogramm spielen sollen, ersetzt wurde sie letztlich von Starsailor. Als 15-jähriger Stones-Fan verließ ich das Stadion von Eintracht Frankfurt enttäuscht: Die Akustik war eine Zumutung, die Show der Stones eine Spur zu routiniert, wobei ich das Konzert im Nachhinein besser bewerte. Dennoch war dieses Erlebnis wohl ein Grund, dass es solange dauerte, bis ich Bruce Springsteen im Olympiastadion in München sah.

Depeche Mode schätze ich schon seit langer Zeit – und nach dem positiven Erlebnis bei Springsteen, verlor ich einige Aversionen gegenüber solchen Massenevents in Sportstätten, so dass ich mir kurzerhand Karten für das Konzert in der Mercedes-Benz Arena in Stuttgart besorgte, die ich von meiner Straße aus sehen kann; im Nachhinein wäre es törricht gewesen, auf diesen Abend zu verzichten:

Die Sonne ist noch nicht untergegangen, als der zehnte Song des Abends verstummt. Dave Gahan verließ kurz zuvor die Bühne. Der exaltierte Frontmann macht Platz für das Mastermind hinter den zahllosen Hits seiner Band. Alt geworden ist er, dieser Martin Gore, dessen Ängste und vertonte Perversionen einige der wirklich unsterblichen Klassiker der Popgeschichte seit den 1980ern hervorbrachten. Im schwarzen, enganliegenden Langarmshirt mit Glitzerelementen und unglaublich bizarrer Metallkettenapplikationen auf der Rückseite steht Gore für einige Minuten im Zentrum. Spielt Gitarre, auf den großen Bildschirmen erkennt man seine schwarz lackierten Fingernägel. Gitarre spielend sang er gerade das erhabene „Higher Love“ von „Songs Of Faith And Devotion“, jenem düsteren Electro-Gospel-Album. Äußerlich ähnelt der geschminkte Gitarrist und Keyboarder immer mehr Lou Reed in dessen mittlerer Schaffensphase, sein Gesang hingegen ist immer noch ein engelsgleicher Tenor. „When The Body Speaks“ ist das ruhigste Stück heute Abend in der Mercedes-Benz Arena in Bad Cannstatt. Stille zieht sich durch die Reihen des nicht ausverkauften Fußballstadions, andächtig lauscht man einem Song, der wie kaum ein zweiter den Ausnahmelyriker Gore in den Fokus stellt, es ist das künstlerische Selbstverständnis eines Popgenies, dass sich in etwas über sechs Minuten den 36.000 Zuschauern offenbart. „I'm just an angel / Driving blindly / Through this world / I'm just a slave here / At the mercy / Of a girl“, Gore war immer die treibende künstlerische Kraft der Gruppe, wie Pete Townshend bei The Who verdient er die Aufmerksamkeit und genießt sie mit stoischer Miene.

Gahan kehrt zurück, rudert mit den Armen, animiert in seiner glitzernden Weste das Publikum. Er ist schon ein begnadeter Entertainer, dieser Dave Gahan, seines schwarzen Jackets entledigt er sich nach wenigen Liedern, sein Hüftschwung, sein Bewegungsdrang sind legendär, er ist der Mick Jagger des Electro-Pops. 
 
Trentemøller, den dänischen Technogroßmeister, der den Abend als Support Act eröffnen sollte, verpasse ich. Früher als erwartet, beginnt das Konzert erwartungsgemäß mit „Welcome To My World“ dem Opener des aktuellen Albums, einer treibenden, sperrigen Electro-Hymne mit deutlichen Industrialanleihen und wachsender Klasse.

The angel of love was upon me / And Lord, I felt so small / The legs beneath me weakened / I began to crawl“, „Angel“ folgt und ich muss anerkennen, dass Depeche Mode mit „Delta Machine“ ein starkes Album gelang, das auch live funktioniert. 
 
2009 schaute ich mir die Echo-Verleihung an, weil Depeche Mode die erste Single ihrer damaligen Platte „Sounds Of The Universe“ erstmals vorstellten, so enttäuschend wie „Wrong“ war dann auch das Album, die folgende Tour interessierte mich plötzlich gar nicht mehr. Ganz anders erging es mir mit „Delta Machine“, doch im direkten Kontrast verdeutlicht die Band selbst, um wie viel größer vergangene Glanztaten erstrahlen.

Walking In My Shoes“, „Precious“, „Black Celebration“, „Policy Of Truth“, die Stimmung erreicht selbst auf den Rängen eine Stimmung, die ich mir in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle nebenan kaum vorstellen könnten. Ein riesiges Fußballstadion wirkt plötzlich heimeliger als die seelenlose Mehrzweckhalle, dass der Sound selbst auf der Haupttribüne solide, im Innenraum sicherlich großartig ist, spricht für die Entscheidung zum Stadionkonzert.

Vom 1997er Album Ultra gibt es das pulsierende „Barrel Of A Gun“, nachdem das neue „Should Be Higher“ etwas schleppend serviert wurde. Andrew „Fletch“ Fletcher steht nahezu regungslos mit schwarzer Sonnenbrille hinter seinem Keyboard, wirkt wie die Personifikation der Coolness. Die Zeit ging nicht spurlos vorbei an den drei 51-jährigen. Besonders Fletch und Gore sieht man das Alter deutlich an, während Dave Gahan, zumindest aus der Entfernung jugendlich erscheint. Seine Tätowierungen präsentierend verkörpert der Sänger mit den kurzen akkurat nach hinten gegelten Haaren den aussterbenden Typus des leidenschaftlichen Frontmann, wie kaum ein anderer seiner Generation. Dass seine Stimme trotz Erkältung wie eh und je klingt spricht für seine Klasse, auch wenn der schwarze Wollschal, den er zu keinem Zeitpunkt des Konzerts auszieht, ein wenig deplatziert wirkt. Er selbst beschreibt sich gerne als „The Cat“ und spielt damit darauf an, wie oft er dem Tod entging. In den 90ern stark Heroin und Kokain abhängig, von Depressionen geplagt, nach einer Überdosis im Koma liegend, verlangte er seinen Körper Unmenschliches ab. Mageninfektionen und eine Krebserkrankung später sieht man dem agilen Sänger seinen Leidensweg kaum an.

Seine Performance ist die eines leidenschaftlichen, obwohl er Anfang der 90er mit langen Haaren und Bart stark an eine Mischung Bono und Jesus erinnerte und Depeche Mode seitjeher einen ähnlichen Weg wie U2 gingen, indem sie in ihren Genre die Größten wurden, wirkt Gahans Bühnenverhalten ehrlicher. Ohne Messias-Komplex, dafür mit jeder Menge Charisma nimmt er das Publikum spielend für sich ein. Kein Wunder, dass diese Band weltweit so vergöttert wird. Besonders groß ist die Zahl der Anhänger freilich in Deutschland, hier gab die englische Band mehr Konzerte als in ihrer Heimat, füllt größere Hallen und Stadien in größerer Anzahl als irgend sonst. Selbstredend sind die acht Stadienkonzerte diesen Sommer in Deutschland durchweg ausverkauft – mit Stuttgart als Ausnahme. Im Winter wird man für ebenso viele Hallenshows zurückkehren. Eine beeindruckende Statistik, die vermutlich keine andere internationale Band vorweisen kann.

Nach der formschönen Soloshow Gores folgt „Heaven“, das meines Erachtens schönste Stück auf „Delta Machine“, ein undurchsichtiges Liebeslied, das den klaren Bariton Gahans ausgesprochen angenehm zur Geltung verhilft, mit „Soothe My Soul“ gibt es den treibendsten der neuen Lieder direkt im Anschluss, bevor „A Pain That I'm Used To“ vom letzten echten Meisterwerk der Band, „Playing The Angel“ von 2005, in einer langen, an den Jacques Lu Conts Remix angelehnten Version folgt. 
 
In den 80ern gelangen Depeche Mode zahllose brillante Singles; „Question Of Time“ heizt die Stuttgarter erwartungsgemäß ein, im Innenraum wird ausgelassen getanzt, auf den Rängen steht ohnehin fast keiner. 
 
Mittlerweile ist es relativ dunkel, die hoch ästhetischen Videos auf den Bildschirmen kommen umso besser zur Geltung, nach einem weiteren neuen Song, versetzen Depeche Mode die Zuschauer mit ihren wohl größten Hits in pure Ekstase. „Enjoy The Silence“ und „Personal Jesus“ werden direkt hintereinander gespielt, im Innenraum sieht man plötzlich nur noch Smartphone-Displays, seltsam. Dass „Goodbye“ vom neuen Album, das es direkt nach „Personal Jesus“ gibt, fast genauso klingt, ist ebenso seltsam und ja, auch ungeschickt.

Das perfekte „Home“ in einer reduzierten Version als erste Zugabe singt wieder Gore, spielt brillant Gitarre, bevor „Halo“ in der Goldfrapp Remix Version und die Hits „Just Can't Get Enough“ und „I Feel You“direkt folgen.

Wer über Hits dieser Klasse verfügt braucht keine opulente Bühne wie U2, die Stones oder mittlerweile auch Coldplay. Depeche Mode sind eine gereifte Band, die ihren künstlerischen Zenith längst überschritten hat, dennoch glaube ich nicht, dass es vermessen ist zu sagen, dass sich das Londoner Trio mit seinen beiden Livemitglieder, Christian Eigler (Schlagzeug) und Peter Gordeno (Keyboards) zu einer der aufregendsten Stadionbands der Welt entwickelt hat. 
Zum Schluss gibt es „Never Let Me Down Again“, die Menge tobt, Gahan schwenkt die Arme, das Publikum folgt. Es ist ein Augenblick des puren Glück.

We're flying high / We're watching the world pass us by / Never want to come down / Never want to put my feet back down / On the ground“.


Setlist, Depeche Mode, Stuttgart:

01: Welcome To My World
02: Angel
03: Walking In My Shoes
04: Precious
05: Black Celebration
06: Policy Of Truth
07: Should Be Higher
08: Barrel Of A Gun
09: Higher Love 
10: When The Body Speaks
11: Heaven
12: Soothe My Soul
13: A Pain That I'm Used To 
14: A Question Of Time
15: Secret To The End
16: Enjoy The Silence
17: Personal Jesus
18: Goodbye

19: Home (Z)
20: Halo (Z)
21: Just Can't Get Enough (Z)
22: I Feel You (Z)
23: Never Let Me Down Again (Z)


Links:
- aus unserem Archiv:
- Depeche Mode, Düsseldorf, 26.02.2010 

 

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