Mittwoch, 30. Oktober 2013

Lou Reed, London, 04.07.2011



Konzert: Lou Reed
Ort: HMV Hammersmith Apollo, London
Datum: 04.07.2011
Vorband: Buke And Gass
Dauer:etwa 105 Minuten
Zuschauer: vermutlich etwa 4.000 (ausverkauft)


"Sunday morning / It's just the wasted years so close behind / Watch out the world's behind you / There's always someone around you who will call / It's nothing at all." 

Von einem Roadie gestützt betritt Lou Reed langsam schlurfend die Bühne des Hammersmith Apollos in London. Sein bloße Präsenz löst tosenden Applaus aus, dabei wirkt der gealterte Mann in schwarzer Lederjacke, weißem T-Shirt mit der großen Brille angeschlagen, kränklich, müde. Der 69-jährige steigert sich, singt sich mit scheuer Klasse durch Unsterbliches seiner Zeit mit Velvet Underground, seinen Solokanon (spart gekonnt Transformer aus) und fesselt die Zuschauer mit der Ausstrahlung seiner starren Mimik. Auf der Bühne steht der größte Zyniker des Rocks, ein Held offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Man kann mehr als erahnen, dass es um die Gesundheit der New Yorker Legende nicht besonders gut stehen kann, dass Möglichkeiten ihn live zu sehen künftig noch rarer werden würden. Dass ein furchtbares Album mit Metallica im selben Jahr und eine ausgedehnte Best-Of-Tour 2012 folgen sollten, ließen berechtigte Hoffnung zu, dass es nun besser gestellt sei um einen der genialsten Künstler, den es in der Welt des Pops jemals geben hat. Wie Keith Richards, Pete Townshend oder Eric Clapton wurde Lou Reed immer als einer derjenigen genannt, die alles überlebt haben – Alkohol, Kokain, Heroin. Das Bekanntwerden einer Lebertransplantation und die Befürchtungen seiner Ehefrau, der Konzeptkünstlerin Laurie Anderson, rechtfertigen Anfang des Jahres wieder Sorge um den kleingewachsenen Musiker, der mit Velvet Underground die Musikgeschichte in einer Nachhaltigkeit veränderte wie wenige sonst. Ein späterer Gastauftritt bei Anthony Hegarty in Paris und das Beispiel David Crosbys, der seine Lebertransplantation vor etwa zehn Jahren gut überstand, machten Hoffnungen. Die Meldung seines Todes am vergangenen Sonntag ist ein umso größerer Schock. Selten war sich die Musikgemeinschaft in ihrer Trauer so einig. Reed fehlt und Erinnerungen an meine einzige Konzertbegegnung mit ihm kommen wieder hoch. Zeit für einen Rückblick, einen Nachruf in Form eines Konzertberichts in unserer Kategorie Konzerttagebuch historisch:

Nach vier Tagen Camping auf dem großen nordfranzösischen Main Square Festival in Arras bin ich erschöpft, hundemüde. Es ist der Sommer der großen Leere zwischen Abitur und Studienbeginn, der mich zu dieser Zeit durch Europa treibt, bevor ich mit einem Ferienjob auf dem Bau ein wenig Geld für das Studium ansparen will. Am Vortag begeisterten mich in der prächtigen Zitadelle Elbow, PJ Harvey und Portishead mit berauschenden Konzerten und sogar Coldplay gelang es damals noch unter ihrer gigantischen Lasershow zwei Stunden lang zu glänzen. Mit Underworld ging das Festival, das mit Win Butlers Gastauftritt bei The National ein heimliches Highlight bot, zu Ende und nach einer kurzen Nacht mit anschließender Fährüberfahrt, kurzem Mittagsschlaf in unserer Herberge – einem Studentenwohnheim der London School of Economics in der Nähe des West Ends – sitze ich in einem Café in Hammersmith in Blickweite des Apollos. Schläfrig bestelle ich mir einen Espresso, wie soll ich den Abend nur durchstehen. Unruhig surfe ich mit meinem Handy, kippe gedankenverloren Salz statt Zucker in die Tasse. Die lächelnde Bedienung nimmt meinen Fauxpas auf ihre Kappe und bringt mir einen neuen Kaffee. Wieder greife ich zum Salzstreuer, erschrecke mich selbst darüber, hoffe, dass es niemand merkt, würge den Espresso schnell herunter. 
Es ist noch eine knappe halbe Stunde bis zum Einlass, selten war ich vor einem Konzert nervöser. Schließlich mache ich mich auf den Weg zur Halle, in der ich im Herbst zuvor ein überraschend gutes Konzert von Sheryl Crow mit Starsailors James Walsh im Vorprogramm sah. Überrascht finde ich mich in einem äußerst heterogenen Publikum wieder: Ältere Herren, Paare jeden Alters, Punks, Goths, Indie-Jünger. Neben mir sitzt ein Mick Jagger-Lookalike, während sich das Auditorium nach und nach füllt und das Duo Buke And Gass aus Brooklyn, das sich vor einiger Zeit in Buke And Gase umbenannte, ein vermutlich solides Support Set spielen, dessen Eindruck mein Schlafdefizit wohl auffraß. 

Wenig später steht Lou Reed auf scheinbar wackligen Beinen mit seinen sieben Mitmusikern auf der Bühne. Eine Männerstimme brüllt ein schallendes „Lou, I Love You“, das der für seine Aussetzer bekannte Rockstar mit einem sonoren (nur vielleicht), spöttischen „And remember after all these years I love you too“ kommentiert. Reed scheint mit sich im Reinen, beginnt mit „Who Loves The Sun“ vom Velvet Underground-Album „Loaded“, dem letzten an dem Reed nach dem Ausstieg John Cales noch beteiligt war. Der Akustikgitarren und Saxophon getragene Mid-tempo-Rocker mit starkem Schlagzeugeinsatz begeistert mich auf Anhieb. „Senselessly Cruel“ und „Temporary Thing“, zwei böse, ironische Stücke vom 1976er Solo-Meisterwerk „Rock And Roll Heart“ halten die enorme Qualität und Reed zeigt mit brüchiger, mehrmals versagender Stimme wie düstere Lyrik, avantgardistische Attitüde, brillantes Songwriting und sexuelle Perversionen zu einem homogenen Ganzen verbunden werden können. 
Nie machte es Reed seinen Anhängern leicht, legendär ist die Prügelei mit Fans in den 70ern während eines Konzerts in der Stadthalle Offenbach. Er ist der Anti-Hippie „Love and peace“, das Schwadronieren über freie Liebe und weiche Drogen interessiert ihn nicht. In anderen Dimensionen denkend, beruft sich der wahrlich genuine Texter und Musiker auf Literatur, Kunst und Psychoanalyse, besingt in den 60ern mit Velvet Underground harte Drogen („Heroin“), Sadomasochismus („Venus In Furs“) und schockt mit harten Riffs, nimmt den Punk vorweg, experimentiert mit Soundcollagen und Krach. 
In London ist der brodelnde Querkopf, der immer wieder aufs Neue überrascht allgegenwärtig; wer ein Best-Of-Set erwartet, kann gleich wieder gehen, daran lässt der Auftakt des Abends keinen Zweifel. Die Lederjacke wird ihm bald abgenommen, Gitarren werden ihm immer langsam umgehängt. So erschreckend seine Erscheinung ist, so großartig ist das Konzert. 
„Ecstasy“ ist das neuste Stück am heutigen Abend und geht nach einer langen, Nerven malträtierenden Version in „Smalltown“ über. Gemeinsam mit John Cale nahm Reed in den 90ern mit „Songs For Drella“ noch einmal ein Album auf, ein Konzeptwerk in Andenken an den Entdecker und langjährigen Förderer der Band – Andy Warhol, der das Debütalbum produzierte und das ikonische Bananen-Art-Work gestaltete. Der beschwingte Piano-Beat "Smalltowns" steht im harten Kontrast zum ironischen Text. Zu keinem Zeitpunkt singt er heute besser als in diesen drei Minuten. Die lethargische Perfomance reißt mich aus meiner Müdigkeit, führt mich in eine Art Trance. 
Es fällt mir schwer zu glauben, aber der Song, der gerade auf der Bühne in seine Bruchstücke dekonstruiert wird, ist wirklich John Lennons „Mother“. Lou Reed akzentuiert das Stück gänzlich neu, als Zuhörer interpretiert man den Text um, geht mit Freud an die Sache heran, denkt an Ödipus- und Mutterkomplex. Nach etwa zehn verstörenden Minuten folgt die große Velvet Underground-Show. Ohne Frage ist Reeds Sacher-Masoch-Adaption „Venus in Furs“ einer der größten Popsongs überhaupt. Im großen Hammersmith Apollo ist es der schonungslose Violineneinsatz Tony Diodores, der die SM-Nummer zum großen Erlebnis macht. Überhaupt harmoniert die begeisternde Band mit Saxophon (Ulrich Krieger), Bass (Robert Wassermann), Gitarren (Aram Bajakian, Kevin Hearn), Schlagzeug (Tony 'Thunder' Smith) und Keyboards (Kevin Hearn) mit dem immer besser werdenden Bandleader an der Gitarre hinter dem Mikrophon hervorragend. „You can't beat two guitars, bass, drums“, lautete eine seiner ins allgemeine Popgedächtnis absorbierten Aussagen: Dass ein Mehr an Musikern nicht unbedingt direkt Jazz sein muss, hätte er früher nie zugegeben, aber schaden tut sie dem großen Zyniker freilich nicht, seine fantastische Backing-Band. 
„Sunday Morning“ und „Femme Fatale“ gibt es im direkten Anschluss in aufreibenden Arrangements. Mit schiefem Gesang zum pulsierenden Beat kämpft sich Reed mit starrer Miene durch Klassiker, die im Hinblick auf ihre pophistorische Bedeutung den Glanztaten der Beatles in Nichts nachstehen. 
„The Blue Mask“ ist eines der unterschätzten Alben eines Mannes, der Punk zehn Jahre vor der Entstehung des Genres lebte. Betrachtet man „Waves of Fear“ ist die Klasse des Albums nicht in Abrede zu stellen. Nach dem glücklicherweise unvermeidlichen Klassiker „Sweet Jane“ ist das reguläre Set vorbei. 
Mit dem fast halbstündigen „The Bells“ kehrt man zurück. Die Band greift tief in die Kiste ihres Könnens, ich bin glücklich. Es ist die fulminante Zugabe eines erhebenden Abends; zwei junge Frauen stürmen im Anschluss die Bühne, umarmen und küssen den griesgrämigen Meister mit dem der Legende nach durch Elektroschocks teilweise gelähmten Gesicht; Laurie Andersons Mann ist irritiert, stolpert, man glaubt ein Lächeln im niemals lächelnden Gesicht zu sehen. Der Mann, der nie lacht, scheint sich wohl zu fühlen. Am Ende verlässt Reed die Bühne, wie er sie betrat: Schlurfend und gestützt. Die Legende hat ihr Werk vollbracht, der Kanon ist unsterblich. An diese Klasse kann auch Velvet Underground-Kollege John Cale wenige Wochen später in Mainz nicht heranreichen. 
Reed war vielleicht kein Star im engeren Sinne, aber er war immer der Größte! Ich werde seine Musik ewig lieben, nie wird eine Woche ohne Velvet Underground-Songs vergehen. Dankbar ihn gesehen zu haben, werde ich den Abend immer in gesonderter Erinnerung halten – als perfektes Konzert und pophistorische Lehrstunde des Rockmusikers, der einem schlaftrunkenen 19-Jährigen mit stoischer Lethargie offenbarte, was Charisma ist.


Setlist Lou Reed, London:

01: Who Loves The Sun (The Velvet Underground - Song) [Loaded]
02: Senselessly Cruel [Rock and Roll Heart]
03: Temporary Thing [Rock and Roll Heart]
04: Ecstasy [Ecstasy]
05: Smalltown (Lou Reed & John Cale - Song) [Songs for Drella]
06: Mother (John Lennon - Cover)
07: Venus in Furs (The Velvet Underground - Song) [The Velvet Underground & Nico]
08: Sunday Morning (The Velvet Underground - Song) [The Velvet Underground & Nico]
09: Femme Fatale (The Velvet Underground - Song) [The Velvet Underground & Nico]
10: Waves Of Fear [The Blue Mask]
11: Sweet Jane (The Velvet Underground - Song) [Loaded]

12: The Bells [The Bells] (Z)


1 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Wie billig von euch.

 

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