Montag, 20. Januar 2014

Dear Reader, Stuttgart, 16.01.2014


Konzert: Dear Reader
Vorband: Lost Lander
Ort: Kulturzentrum Merlin, Stuttgart
Datum: 16.01.2014
Dauer: Dear Reader etwa 90 Minuten; Lost Lander 30 Minuten
Zuschauer: nicht ganz ausverkauft, etwa 200



Ein Übermaß an Spontanität gehört nicht zu den bekannten Tugenden der liebreizenden Cherilyn MacNeil. Vielmehr leben die Konzerte ihres Projekts von einer professionellen, genau durchdachten Performance, die den jeweiligen Tourabschnitt wie eine geschickte Theaterinszenierung erscheinen lässt. Ein großer Trumpf ist dabei, dass es MacNeil und ihrer aktuellen Dear Reader-Besetzung mit leichter Hand gelingt, jegliche Routine hinter einem strahlenden Lächeln zu verbergen. Vermutlich denkt jeder, der die englische Gitarristin und Trompeterin Emma Greenfield das erste Mal fragen hört, wie man einen zaubernden Hund nenne („Labrakadabrador“),  dass sie eine Pause zwischen zwei Songs für spontane Scherze nutzen würde. Erst recht, wenn ihr kanadischer Mitmusiker Sam Vance-Law ergänzt: "Und wie nennt man einen Hund, der nicht zaubern kann?" ("Labrador"). Tatsächlich ist es nebensächlich, ob derartige Dinge einstudiert sind, man sollte sich dessen allerdings im Klaren sein. 


Wenig verwunderlich wird die Setlist während einer abgeschlossenen Tour wenn überhaupt nur geringfügig variiert. Dass eine festgeschriebene Songfolge selten aufgebrochen wird, ist überhaupt nichts ungewöhnliches, dennoch freue ich mich persönlich immer über eine Auswahl, die nicht strikt festgelegt erscheint. Als Cherilyn MacNeil nach Abschluss des regulären Sets und der vorgesehenen Zugaben schließlich alleine mit akustischer Gitarre zurückkehrt und  eben dies tut, bin ich positiv überrascht. 


Im Gegensatz zu den ersten beiden Konzerten des Pop Freaks Festivals (Dagobert und Die Höchste Eisenbahn) ist das Merlin zwar nicht ausverkauft, die gut 150 Zuschauer, die sich an einem Donnerstag-Abend im Kulturzentrum im Stuttgarter Westen einfinden, genießen aber ein großes Konzert und verhalten sich derart vorbildlich, dass die junge Südafrikanerin "Stuggi" mit einer besonderen, nicht vorgesehen Zugabe dankt. An den ersten Akkorden erkenne ich „Dancing in the Dark“ und lasse meine natürliche Skepsis hinter mir und mich auf eine ergreifende Cover-Version ein. Wo es der Schottin Amy MacDonald vor eineinhalb Jahren in Metzingen verwehrt blieb mit ihrer Springsteen-Hommage („Born to Run“) bei mir zu punkten, ist MacNeils Fassung in jeder Hinsicht mustergültig. Die schier grenzenlos sympathische Wahl-Berlinerin adaptiert den All Time Favourite mit beachtlicher Feinheit. Erschien mir die während einer TVnoir-Sendung aufgezeichnete Dear Reader-Version noch belanglos, bin ich von der heutigen Performance überwältigt. Der gebürtigen Johannesburgerin gelingt eine unprätentiöse, herrlich reduzierte Interpretation die ihresgleichen sucht. Den Beweis, wie gut ein wenig Spontanität ihren Konzerten tut, liefert sie mühelos mit. Dass der Abend auch zuvor ausgesprochen gut, wenn auch nicht derart denkwürdig war, liegt auf der Hand. 


Bereits die Vorband Lost Lander sorgt mit guten Songs und charismatischen Musikern für einen starken Start. Die Band aus Amerikas liberalen Herz Portland, Oregon, spielt verträumten Indie-Pop mit signifikanter Folknote. Das für die Europa-Tour zum Duo geschrumpfte Quartett glänzt mit Stücken vom von Brent Knopf produzierten Debütalbums „DRRT“ und einigen neuen Songs. Frontmann Matt Sheehy spielt mit entspanntem Lächeln Gitarre, während die eigentliche Keyboarderin Sarah Fennell neben ihrem Hauptinstrument auch für die perkussiven Elemente sorgt. Mit wunderbar eingängigen Liedern wie „Afraid of Summer“ gelingt dem Duo ein äußerst kurzweiliger Auftritt, der an Angus & Julia Stone erinnert.
Ohnehin ist die Güteklasse sowohl der Songs als auch der Performance eine besonders hohe. Im schicken Jackett gibt Sheehy den distinguierten Indie-Sänger in klar abgesteckter Tradition, während die blonde Fennell mit ihrem Jane-Birkin-Pony und einem durchsichtigen Rock zur fleischfarbenen Leggins gekonnt mit Popsängerinnen-Klischees kokettiert und dabei besser aussieht. Dass darüber hinaus die musikalische Qualität stimmt und besonders die Harmonien überzeugen, spricht für sich. Am Ende des halbstündigen Sets bin ich mir sicher, seit langem keine vergleichbar mitreißende Vorband mehr gesehen zu haben. 


Als Dear Reader wenig später mit „27.04.1994“, einer Ode auf die ersten freien Wahlen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, beginnen, zeigt sich augenscheinlich, wie eingespielt diese Besetzung mittlerweile ist. Cherilyn MacNeil ist bekannt für ihre häufigen Bandwechsel, doch halte ich die aktuellen Dear Reader-Musiker für die idealen Kandidaten; zumindest für die Live-Umsetzung ihres ambitionierten Albums „Rivonia“. Schon im vergangenen Mai spielte MacNeil gemeinsam mit Emma Greenfield (Gitarre, Trompete, Gesang), Thomas Fietz (Schlagzeug), Sam Vance-Law (Violine, Akkordeon, Gesang, Keyboards) und Michael Vinne (Bass) ein fantastisches Konzert im Stuttgarter Schocken. Es war meine bis dato glücklichste Begegnung mit Dear Reader. Der heutige Abend übertrifft mein viertes Konzert der Band sogar noch einmal. 


Wenn es eine Gruppe gibt, die perfekt zum Merlin passt, ist es Dear Reader. Nach wenigen Songs wird klar, dass die Setlist im Vergleich zum ersten Teil der „Rivonia“-Tour im vergangenen Jahr nur geringfügig geändert, dafür aber ein wenig durcheinandergewirbelt wurde. Der einstige Opener „Man of the Book“ gefällt an späterer Stelle immer noch genauso gut wie zuvor, auch wenn die Geschichte von ihrem Ur-Ur-Großvater und Gandhi mittlerweile zu häufig erzählt wurde. Neu in der Setlist hingegen ist zum Beispiel „Mole (Mole)“ vom herrlich verschrobenen Konzept-Album „Idealistic Animals“, das ebenso wie „Whale (Boohoo)“ ein echter Höhepunkt des Konzerts ist. 


Mit sympathischem Strahlen im Gesicht erzählt MacNeil, deren Deutsch immer besser zu werden scheint, zwischen den Stücken Geschichten, verleiht dem Konzert eine positive Aura, die glücklich macht. Nach großartigen Liedern des aktuellen Albums, ihres „ganz persönlichen Graceland“, wie ich in meinem Bericht über das letzte Stuttgart-Gastspiel konstatierte, sind es dann doch wieder die Live-Favoriten „Great White Bear“ und „Monkey (Go Home Now)“ zum Schluss, die die ganze musikalische Vielfalt und Klasse der Künstlerin Cherilyn MacNeil offenbaren, die immer wieder mit überraschenden, teils neuen Arrangements ihrer farbenfrohen, extraordinären Popsongs daherkommt. 

„Left the Ground“ und „What We Wanted“ geben abschließend der Band großen Raum, während der Zugaben ihr preziöses, für Popmusiker ungewöhnliches Zusammenspiel zu unterstreichen. Nach „Bend“ sind Zuschauer wie Musiker glücklich. Als MacNeil kurz darauf spontan und überraschend für „Dancing in the Dark“ zurückkehrt, bin ich um einen magischen Konzertmoment reicher. Überhaupt sollten wir alle froh sein, Cherilyn MacNeil in Berlin zu haben. Undenkbar ein Konzertjahr ohne exzessive Dear Reader-Touren; in welcher Besetzung auch immer.



Setlist Dear Reader, Stuttgart:

01: 27.04.1994
02: Down Under, Mining
03: Dearheart
04: Mole (Mole)
05: Good Hope
06: Man of the Book
07: Whale (Boohoo)
08: Took Them Away
09: Cruelty on Beauty on
10: Victory
11: Already Are
12: Great White Bear
13: Monkey (Go Home Now)

14: Left the Ground (Z)
15: What We Wanted (Z)
16: Bend (Z)

17: Dancing in the Dark (Bruce Springsteen-Cover) (Z)


Links:
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